Ein halbes Leben Psychotherapie

Neulich musste ich darüber nachdenken, dass ich tatsächlich mehr Jahre meines Lebens mit wöchentlicher Psychotherapie verbracht habe, als ohne.

Ich bin unentschieden ob mich das traurig stimmt oder froh. Traurig, weil es nötig war/ ist oder froh, weil ich das Glück hatte, die Unterstützung so viele Jahre bekommen zu haben.

Nachdenklich machte mich auch die Frage, was es mir gebracht hat und wie es für mich vielleicht gelaufen wäre, hätte ich keinen Zugang zu Psychotherapie gehabt.

Die letzten fast 20 Jahre begleitet mich ein und derselbe Therapeut und was rückblickend tatsächlich am meisten geholfen hat, war diese Kontinuität. Es waren nicht spezielle Techniken oder besondere „Durchbrüche“ in der Therapie. Keine Schlüsselerlebnisse. Was mich uns hat wachsen lassen, war der Mensch (Therapeut) der unerschütterlich an unserer Seite war. Jeden Weg mitgegangen ist und oft nichts weiter getan hat, als da zu sein und uns wohlgesonnen zu sein. Klingt banal, ist es aber nicht.

Um ein Beispiel zu nennen, was uns sehr deutlich in Erinnerung geblieben ist. Eine Kleinigkeit. Beim Wechsel zu einer neuen Arbeitsstelle, (den wir wirklich sehr fürchteten und Angst hatten, dass nicht zu bewältigen, schlussendlich in der Erwerbsminderung zu landen) hatten wir am Morgen des 1. Arbeitstages eine Mail in der nur stand, er wünsche uns einen guten Start am Neuen Arbeitsort. Dieser eine Satz hat uns so sehr geholfen! Wir haben uns in unserer Angst wahrgenommen gefühlt und gleichzeitig bestärkt darin uns weiter durchzukämpfen. Das ist das „da sein und mitgehen“ das ich meinte. Mehr braucht es oft nicht.

Klar. Eigentlich ist das etwas, dass Eltern für ihre Kinder tun. Ich habe solche Eltern nicht. Umso mehr weiß ich es zu schätzen.

In all den Jahren hat sich die Art der Therapie auch verändert. Heute ist es oft so das es sich wirklich anfühlt als Besuche man seine Eltern einmal die Woche und berichtet von seinem Leben. Hier und da bekommt man einen Ratschlag, oft geht es aber um tausend alltägliche Themen, Smalltalk, wie der Urlaub war. Politische Themen oder Fragen der gesetzlichen Krankenversicherung. Heute sind es meist nicht mehr so tief erschütternde Erinnerungen, Gefühlslagen, Problematiken, die früher den Hauptteil der Therapie ausmachten.

Unser Leben ist heute sehr viel ruhiger. Weniger Katastrophen. Keine äußere Gewalt mehr. Wie sagt man so schön: Heute fühlen wir uns sehr viel mehr getragen von unserem Leben. Die Beine sind nicht mehr so wackelig, die Angst nicht mehr immerzu so vernichtend und auch viele von den Auch-Ich’s sind erwachsener geworden.

Wir haben beruflich einen „Raum“ gefunden, den wir mit unseren Beeinträchtigungen bewältigen können. Die sehr wütenden Auch-Ichs sind unheimlich gut darin, diesen Raum auch zu bewahren und zu schützen. Vor 20 Jahren undenkbar, aber heute sitzen sie sachlich den Vorgesetzten gegenüber und erklären was wir alles tun für eine Teilhabe am Arbeitsleben und das wir dementsprechend vom Arbeitgeber ebenfalls erwarten seiner Verantwortung, uns diese Teilhabe zu ermöglichen, gerecht zu werden.

Weiß man, wie diese Auch-Ichs eigentlich agiert haben und wie sie gelernt haben zu sein, dann weiß man, wie beeindruckend das ist. Noch heute werden sie vom Helfermenschen schnell als „Destruktive“ bezeichnet. Ich bin den wütenden Auch-Ich’s aber unsagbar dankbar. Denn sie haben die Energie, die oft nötig ist oder vielleicht besser nötig war, um nicht unterzugehen!

So haben die meisten von uns eine Aufgabe gefunden, die uns nutzt und nicht den Tätern. Oft war das kein wirklich bewusstes erarbeiten, sondern vieles hat sich einfach so ergeben oder es waren Entscheidungsprozesse, die nicht im Bewusstsein abgelaufen sind. Was gerade zur Anfangszeit, also bei erstmaliger Auseinandersetzung mit uns, der einzige gemeinsame Nennen war: „Wir werden nicht untergehen und die ganze Welt kann uns mal, wie wollen selbständig und finanziell unabhängig leben.“ zieht sich bis heute durch und war auch der Rahmen, in dem jedes Auch-Ich sich einbringen konnte und seinen Platz finden durfte.

Natürlich läuft das nicht so perfekt, wie es jetzt klingt. Der ein oder andere macht bis heute nicht mit. Noch immer gibt es Ausreißer in alle Richtungen aber eines ist geblieben und eint tatsächlich die Mehrheit: Frei und finanziell unabhängig leben.

Manchmal auch mit dem Zusatz: Koste es, was es wolle!

Traurig macht der Rückblick auf mein Leben allerdings auch. Wenn ich daran denke, wie unmöglich es mir mit 20 Jahren war, auch nur Brötchen beim Bäcker zu kaufen. Und der Grund. Man muss sagen „Ich hätte gerne Brötchen.“ nichts weiter. Nur in meinem Kopf bedeutete das, ich werde sterben! „Ich möchte Brötchen“ ist ein Bedürfnis das man laut ausspricht. Ein Bedürfnis aussprechen, selbst ein so banales hat mich vor Scham im Boden versinken lassen, außerdem war es verboten und zudem macht dich jedes, wirklich JEDES Bedürfnis das du preisgibst angreifbar. In meiner Welt wurde das sofort und vernichtend gegen dich verwendet…

Daran zu denken und wie sich das auf nahezu jede noch so kleine Alltagssituation ausgewirkt hat, macht mich heute fassungslos. Ich war unglaublich geschädigt. Mein Angst vor Menschen und Ihren Abgründen überwältigend. Ich kenne niemanden der fürchtet bzw. überzeugt ist die Bäckereifachverkäuferin wird sagen: „Nein! DU kriegst kein Brötchen! Was fällt dir eigentlich ein, eins zu verlangen!“ Und heute empfinde ich tiefes Mitgefühl und riesige Traurigkeit darüber, wie lange ich so gelebt und gefühlt habe und wieviel Lebensjahre draufgegangen sind und wieviel Therapieschmerz es erfordert hat, heute ohne nachzudenken kurz beim Bäcker ein Brötchen zu kaufen.

Auch hier sind wir heute versöhnlicher. Das sind nunmal die Karten, die das Leben an uns verteilt hat und wir fühlen eine Gewissheit, dass wir mit dem Blatt das wir auf der Hand haben, dass bestmögliche aus dem Spiel machen werden. wir haben die Karten nie hingeschmissen oder sind daran völlig verzweifelt. Ja es war ungerecht und das ist es noch heute aber da höre ich die wütenden Auch-Ich’s auch wieder laut werden und Energie bereit stellen „Scheiss drauf! Die Welt kann uns mal!“

Was eigentlich bedeutet, wir werden immer versuchen, soviel „normales“ Leben zu erleben, wie es geht. So viel schönes und lebenswertes zu erleben, wie es uns möglich ist. WIR WOLLEN LEBEN und ERLEBEN, dass wollten wir immer. Das Gefühl, da muss es noch mehr geben und das Leben ist uns noch was schuldig hat uns vieles durchhalten lassen.

In diesem Sinne:

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